Dienstag, 8. April 2014

Und jede Nacht stirbt sie einen kleinen Tod - atemberaubend, spannend, durchdacht!


Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
S.J. Watson
Scherz-Verlag
14,95€
Amazon

»Christine, du bist jetzt siebenundvierzig«, sagt er. Ich sehe ihn an, diesen Fremden, der mich anlächelt. Ich will ihm nicht glauben, will nicht mal hören, was er da sagt, aber er redet weiter. »Du hattest einen Unfall«, sagt er. »Einen schlimmen Unfall. Mit Kopfverletzungen. Es fällt dir schwer, dich an Dinge zu erinnern.« »Was für Dinge?«, sage ich und meine eigentlich, Doch bestimmt nicht die letzten fünfundzwanzig Jahre? »Was für Dinge?« Er macht einen weiteren Schritt auf mich zu, nähert sich mir, als wäre ich ein verängstigtes Tier. »Alles«, sagt er. »Manchmal schon seit du Anfang zwanzig warst. Manchmal sogar noch früher.« Daten und Altersangaben schwirren mir durch den Kopf. Ich will nicht fragen, aber ich weiß, ich muss. »Wann … wann war der Unfall?« Er sieht mich an, und sein Gesicht ist eine Mischung aus Mitgefühl und Furcht. »Als du neunundzwanzig warst …«


In „Ich. darf. nicht. schlafen.“ von Steve Watson wacht Christine Lucas jeden Morgen im Körper und im Leben einer 47-Jährigen auf, während sie sich nur an ihre ersten zwanzig Lebensjahre erinnert. Ihr Studienabschluss, ihr schriftstellerischer Erfolg, ihre Ehe und alles, was ein gelebtes Leben sonst noch so nach sich zieht – vergessen, weg, ausgelöscht. Jeden Morgen bekommt sie ihr Leben wieder neu von ihrem Ehemann Ben erklärt, an welchen sie sich im Übrigen auch nicht erinnert. Christine leidet seit ihrem Unfall vor achtzehn Jahren unter Amnesie. Die Chancen auf eine Besserung ihres Zustandes erscheinen zunächst verschwindend gering, aber mit der Hilfe von Dr. Nash und dem Tagebuch, das sie seit einigen Wochen führt, stellt Christine fest, dass sie sich immer öfter an Dinge erinnert. Dabei stößt sie auf Ungereimtheiten, denn ihre Erinnerungen passen nicht immer zu dem, was Ben ihr erzählt. Und Christine stellt fest, dass er sie immer wieder belügt – sicher nur zu ihrem Besten … oder? 

Eigentlich lese ich gar keine Thriller, aber nachdem ich innerhalb kürzester Zeit dann doch gleich zwei recht gute gelesen habe, könnte ich meine Meinung ändern. Im Französischen heißt das Buch, dem englischen Titel entsprechend, „Avant d’aller dormir“, also „Vor dem Schlafengehen“. Der deutsche Titel ist hier meiner Meinung nach etwas irreführend: Er legt nahe, dass Christine versucht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, indem sie nicht schlafen geht und so ihre Erinnerungen länger zu erhalten versucht. Das ist nicht der Fall. Es sind ihre Tagebuchaufzeichnungen, die es ihr ermöglichen, die Wahrheit zu finden. Die Wahrheit ist überhaupt in dem Buch eine spannende Sache. Sie ist keinesfalls offensichtlich, bis fast zum Schluss hatte ich keine Ahnung, wie sich das alles auflösen mag, und ich fieberte atemlos mit der Protagonistin des Buches mit. 

Es ist ein gemeinsames Entdecken: Auch sie hat keine Ahnung, was damals passiert ist. Ihre aufkeimenden Erinnerungen könnten Fiktion oder Realität sein. Sie ist hin- und hergerissen zwischen Misstrauen, Vertrauen und aufkeimenden Gefühlen, die es ihr schwer machen, rational und objektiv zu bleiben. Wie auch immer: Man geht einen gemeinsamen Weg zusammen und das Interessante bzw. Schöne dabei ist, dass die Protagonistin sich die gleichen Gedanken macht, die man als aufmerksamer Leser hat. Sie stellt Hypothesen auf, Vermutungen, die sie dann wieder relativiert und verwirft oder sie erkennt, dass sie der Wahrheit entsprechen, was ihr als Basis für eine neue Hypothese dient. Es ist wirklich großartig, was für ein tolles psychologisches Gespür der Autor Steve Watson besitzt: Er legt Christines Gedanken- und Gefühlswelt sehr detailliert und nachvollziehbar für den Leser dar und ermöglicht es so, dass man sich mit ihr als unter Amnesie leidenden Figur durchaus identifizieren kann, Christine ist authentisch. Mir ist klar, dass man so etwas lieben muss: einen derart intimen und genauen Einblick in eine Figur zu bekommen, ohne dass dieser immer explizit zum Vorantreiben der Handlung dient. Andernfalls wird man mit diesem Buch vielleicht nicht glücklich. Es gibt nicht viele Schauplätze, hauptsächlich hält sich Christine in ihren vier Wänden auf, doch gerade zum Schluss wird das Buch auch in dieser Hinsicht sehr dynamisch. 

Einen kleinen Abzug hält das Buch für sein Ende. Ja, richtig gehört! Es klären sich zwar viele Rätsel, Christine findet die Wahrheit, dennoch ist es ein offenes Ende, was vielleicht die Vorstellungskraft des Lesers über das Buch hinaus anregen soll, doch ich habe mich einfach geärgert, dass ich es nicht erfahre. (Mehr sage ich nicht!) Trotzdem: Das Buch ist hochgradig empfehlenswert für jeden, der eine atemberaubende Geschichte über eine Frau lesen möchte, die auf der Suche nach der Identität ist, die ihr vor vielen Jahren geraubt wurde – oder hat Ben recht und es war einfach ein Unfall, also Schicksal?






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